Tower Defense/MOBA-Mix für Connaisseure – „Cloudspire“

Kram der Mächtige steht auf den Zinnen der Brawnen-Festung und lässt seinen Blick in die Ferne streifen, vorbei an Pfaden, Ebenen, Wäldern, Bergen und Gewässern. Die Strahlen der frühen Morgensonne, tauchen die Landschaft in malerisches Licht. Das Idyll wird jedoch von dem Klirren der Waffenschmieden und den harsch gebrüllten Befehlen der Unteroffiziere gestört. „Verdammter Mist“ grummelt Kram vor sich hin und zerknüllt dabei den Lagebericht, den er von seinen Spähern nachts erhalten hatte.

„Schnelle Eingreiftruppen der Heir haben die Hügel nordöstlich der alten Ruinen eingenommen und Spire errichtet; Grovetenderbewegungen an den Waldrändern gesichtet; Narora-Aktivität an den zentralen Sourcefeldern; unverzügliches Handeln erforderlich“.

Er versuchte sich daran zu erinnern, wie friedlich es einst auf dem Wolkenkontinent Ankar war. Damals, als es genug Source für alle gab; lange bevor die ersten schwebenden Kontinente miteinander kollidierten; das Ereignis, das bis heute als Auslöser des Konflikts zwischen den Völkern gilt. Kram dreht sich langsam zu seinen Offizieren um, die bis dahin regungslos auf die Befehle ihres Kommandanten gewartet hatten. „Die Bastarde wollen die harte Tour, die sollen sie bekommen. Zeigen wir Ihnen, dass dieser Kontinent den Brawnen gehört. Ihr kennt eure Aufträge, lasst die Truppen losmarschieren.“ …

Worum geht's?

Cloudspire aus dem Hause Chip Theory Games ist eine Mischung aus Tower Defense und MOBA (Multiplayer Online Battle Arena). Im Kern geht es darum innerhalb von 4 Angriffswellen (jede unterteilt in 7 separate Phasen mit zum Teil mehreren Runden), eigenen Truppen auf festgelegten Pfaden zur gegnerischen Festung marschieren zu lassen und diese dem Erdboden gleich zu machen. Unterstützt werden sie dabei von Helden, die mehr Bewegungssautonomie besitzen, sowie durch Verstärkungen verbessert werden können. Auf dem Weg zu den gegnerischen Toren können außerdem Wahrzeichen erkundet und Kämpfe ausgefochten werden. Dabei kommen blau leuchtende Sourcefelder zum Vorschein auf denen wiederum Verteidigungstürme errichtet werden können. Das ist wichtig, denn schließlich wollen euch die gegnerischen Fraktionen auch ans Leder und versuchen ihrerseits eure Festung niederzubrennen.

Geht's auch etwas genauer?

Fangen wir nochmal von vorne an: Im Grundspiel von Cloudspire schlüpft ihr in die Rolle des Kommandanten einer von vier sehr unterschiedlich zu spielenden Fraktionen: dem Riesenvolk der Brawnen, den waldverbundenen Grovetender, der Vogelrasse der Heir und den protossartigen Narora.

Als Kommandant erlangt ihr Zugriff auf normale Kampfeinheiten (Minions), 3 mächtige Helden (Heroes) und Verteidigungstürme (Spire). Jeder Einheitentyp von jeder Fraktion hat dabei einzigartige Fähigkeiten.

Beispiel gefällig? Darb, der Basisheld der Heir hat die Fähigkeit „Fliegend“ – er kann sich also über jedes Gelände hinwegbewegen und nur von Einheiten und Türmen mit Luftverteidigung („Air Defense“) angegriffen werden. Eine Fähigkeit die Dywen, der Basisheld der Grovetender, zufälligerweise besitzt; oder die Dispatch-Minions der Brawnen. Für jede Fähigkeit gibt es also fraktionsspezifisch irgendeine passende Antwort.

Dargestellt werden die Einheiten und deren Fähigkeiten durch bedruckte Pokerchips. Während die Basisinformationen wie Lebenspunkte, Stärke und Bewegungsreichweite durch Piktogramme dargestellt werden, beschreiben Schlagworte die jeweiligen Einheitenfähigkeiten. Eine ausführliche Erklärung findet sich in den fraktionsspezifischen DIN A4 Übersichtstafeln.

Zu Beginn jeder der 4 Angriffswellen erhält man nun eine gewisse Menge Source und Commandpoints um damit die eigene Festung auszubauen und so neue Einheiten, Fähigkeiten oder Verbesserungen freizuschalten, sowie Minions und Heroes zu kaufen. Auch Spire können im Einzugsbereich auf speziellen Feldern gebaut werden. Die Auwahl ist gigantisch – die taktischen Möglichkeiten immens. Das i-Tüpfelchen auf der Strategiesahnetorte: Die Resourcen reichen nie, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen!  „Was baut mein Gegner?“, „Wie sichere ich meine Festung?“, „Investiere ich in ein neues Upgrade oder spare ich etwas Source auf, um flexibel zu bleiben?“- am Tisch werden alle zu Feldherren die das Schlachtfeld genau analysieren und mögliche Schwachstellen in der gegnerischen Stellung suchen. Das ist pure Spannung und habe ich so intensiv bei nicht vielen Spielen vorher erlebt.

Sind alle Entscheidungen getroffen geht es los: die eigenen Minions stürmen nach sehr strikt vorgegebenen Regeln stupide in Richtung Gegner wohingegen Helden deutlich variabler sind. Somit gehört auch die korrekte Reihung der eigenen Truppen mit in die Strategie jeder Phase. Schicke ich lieber die schnellen Einheiten vor um den Gegner weit entfernt von meiner eigenen Festung zu binden oder setze ich doch lieber die langsamen Einheiten nach vorne; und spekuliere so darauf, dass die gegnerischen Truppen durch Turmfeuer und neutrale Einheiten vordezimiert werden. Einfach nur strategische Tiefe!

Doch die Spieltiefe erstreckt sich nicht nur auf die Einheitenauswahl und Kampfphase – bereits in der vorherigen Marktphase werden strategische Entscheidungen getroffen, die spielrelevante Auswirkungen haben können. So kann man beispielsweise neue Geländeteile erwerben und das Schlachtfeld neu formen; und gegnerische Einheiten zu langen Umwegen, die idealerweise an den eigenen Verteidigungstürmen entlangführen, zwingen.

Außerdem können Heldenupgrades und sogar Söldnereinheiten und -helden rekrutiert werden. Aber: Das ganze kostet wertvolles Source, welches anschließend nicht mehr für Festungsverbesserungen oder Neubauten von Verteidigungstürmen zur Verfügung stehen.

Euer Kopf raucht mitlerweile? Gut so – denn genau so ergeht es euch auch während des Spiels; und es ist einfach ein befriedigendes Gefühl, wenn der in der Markt- und Bauphase geschmiedete Plan Früchte trägt und die eigenen Einheiten es bis zum gegnerischen Tor geschafft haben, um dieses zu zertrümmern.

Außerdem: Es gibt Ereigniskarten, die zu Beginn einer Welle gezogen werden und deren Rahmenbedingungen verändern.  Oder wie wäre es mit mächtigen Reliquien, die als Belohnung für das Töten neutraler Einheiten erlangt werden können und starke Effekte besitzen.

Cloudspire spielt sich aber nicht nur gegeneinander brilliant: Die Entwickler haben einen hervorragenden Coopmodus, sowie einen Solomodus integriert. Letzterer besticht durch abwechslungsreiche Szenarien, die durch eine unterhaltsame Geschichte zu einem tollen Erlebnis verbunden werden.

Das alles reicht euch nicht? Ihr könnt euer Spielgefühl um 3 spielbare Fraktionen erweitern (Griege, Horizons Wrath, The Uprising), sowie eine Gameplay Expansion (Portal Seekers).

Reicht immer noch nicht? Kein Problem: Es gibt 2 Miniaturenerweiterungen, mit denen ihr eure fraktionsspezifischen Türme durch schön modellierte 3D-Turmfiguren auf den Spieltisch bringen könnt, außerdem bieten 2 Bücher weitere Informationen zur Hintergrundgeschichte des Konflikts um Ankar und beinhalten zusätzlich neue Soloszenraion und führen Regeln für PvP-Skirmishspiele ein.

Ich! Will! Mehr! Ok, Chip Theory Games hat die Fanwünsche wahrgenommen und wird weiteren Content veröffentlichen – nach eigenen Angaben der letzte für Cloudspire. Die Crowdfundingkampagne läuft aktuell auf Gamefound und erweitert den Cloudspirekosmos um 3 neue Fraktionen, ein neues Lorebuch, neue Turmminiaturen und Szenarien.

Im Thema versinken?

Der letzte Absatz deutet es an: Wer sich darauf einlassen möchte, kann sehr tief in die Geschichte von Ankar eintauchen. Aber wird das auch beim Spielen deutlich? Ja, das wird es. Dadurch, dass jede Fraktion individuelle Einheiten, Türme, Verbesserungen und vor allem Fertigkeiten besitzen, gelingt es dem Spiel den Spielenden tief in seinen Bann zu ziehen.

Was ist mit ... dem Spielmaterial?

Chip Theory Games ist in der Brettspielszene bekannt für ihre sehr gute Materialqualität. Auch ich hatte im Vorfeld bereits viel Gutes gehört, konnte aber schlicht nicht mitreden, da ich vor Cloudspire kein CTG-Spiel besaß. Als ich die Schachtel des Spiels dann zum ersten Mal geöffnet hatte, entglitt mir tatsächlich ein „Holy Shit“. Schwere, griffige Pokerchips mit gestochen scharf gedruckten Illustrationen, bedruckte (!) Würfel, Neoprengeländeteile – mein Spielerherz “ es schlug […] geschwind zu Pferde“. Die Kirsche auf der Sahne der vollmundigen „Cloudspiretorte“ waren jedoch die Karten – alles aus hochwertigem PVC gefertigt! Ihr könnt sie mit unter die Dusche oder die Badewanne nehmen und es würde nix passieren. Die Oberfläche der Karten ist so beständig, dass ihr auf das Sleeven vollständig verzichten könnt – die Teile sind quasi unkaputtbar. Hört sich alles nach übertriebener Lobhudelei an? Nein! Chip Theory Games liefern hier absolute Premiumqualität ab – besser geht es einfach nicht.

Fazit

Schweiß läuft Kram wie ein Rinnsal von der Stirn. Sein Herz pocht wild in seiner Brust und verstärkt nur die unangenehm schwüle Hitze, die aus der Halsöffnung seiner Rüstung aufsteigt. Er schließt kurz die Augen und konzentriert sich ganz auf seine Atmung. Tief einatmen, kurz innehalten und dann langsam und kontrolliert wieder ausatmen. So hatte es ihm sein Lehrmeister vor Jahren beigebracht und so hatte Kram es bereits in hunderten Schlachten angewendet. Bald wird nur noch das adrenalinbedingte, schwache Zittern seines Waffenarms als Erinnerung an die vergangene Schlacht übrig sein. Erst jetzt bemerkt er die Jubelrufe der Brawnentruppen um ihn herum. Er öffnet die Augen und vergegenwärtigt sich der Szenerie. Auf dem morastigen Boden liegen die sterblichen Überreste der Gefallenen verteilt. „Verdammte Vogelbastarde“ dachte er sich noch, als er durch das Rufen seiner Unteroffizierin aus seinen Gedanken gerissen wurde. „Sir, die Heir haben sich vollständig zurückgezogen; Berichte der Spähern von der Ostflanke verlauten, dass sich die Grovetender und die Narora in Scharmützeln weitestgehend aufgebrieben haben. Die Sourcefelder gehören uns!“. „Sehr gut, schickt eine Nachricht an Premier Awsh und bittet ihn um weitere Befehle. Lasst die Truppen ein Feldlager aufschlagen und macht euch auf weitere Befehle gefasst; wir werden nicht lange Zeit zum Ausruhen haben“ knurrte Kram seiner Unteroffizierin zu. Ihr energisches „Zu Befehl!“ konnte Kram schon gar nicht mehr wahrnehmen. Er war wieder in seinen Gedanken versunken – Gedanken an die Zeit, als es noch genug Source für alle gab und die Wolkeninseln Ankars friedlich nebeneinander koexistierten. Der Krieg um Ankar hatte erst begonnen…

Was ein Knaller! 10 von 10 – Basta! Anders kann ich Cloudspire nicht beschreiben. Dieses Spiel ist Adrenalin pur und bietet so unendlich viel Abwechslung, dass die Bezeichnung „Lifestyle-Game“ absolut gerechtfertigt ist. Vom emotionalen Versusspiel über den hervorragenden Coop-Modus bis hin zu der erstklassigen Solokampagne; Cloudspire bietet jedem Spielertypen etwas. Das alleine reicht schon aus, um es zu einem meiner absoluten Herzensspiele zu machen. Was es aber in den Brettspielolymp katapultiert ist das Material. Die PVC-Karten, Neoprenmatten und schwere, kratzerfreie Pokerchips (ja ich schaue dich an, du verkratztes Too Many Bones) sind nicht besser zu produzieren. Punkt!

Durch die verschiedenen Spielmodi ist Cloudspire grundsätzlich sowohl für Solospielende, als auch kompetitive Spielerinnen und Spieler zu empfehlen. Einzig der Coopmodus hinkt etwas hinterher. Sollte euer Fokus also im kooperativen Spiel liegen, würde ich eher zu anderen Titeln greifen (beispielsweise „Helden müssen draußen bleiben!“).

Aber: Das Spiel ist nichts für Einsteiger! Durch das kleinteilige Regelwerk und die asymmetrisch zu spielenden Fraktionen, können Einsteiger in den ersten Partien überfordert sein und schnell die Motivation verlieren. Durch einen erfahrenen Spieler an die Hand genommen, ist trotzdem mindestens eine Lernpartie erforderlich, für die gut und gerne 3 Stunden eingeplant werden sollten. Ein weiterer Aspekt: Ihr solltet sattelfestes Englisch beherrschen, den bisher hat sich noch kein Verlag an eine deutsche Übersetzung getraut.

Jedem, der sich davon jedoch nicht abschrecken lässt, bietet Cloudspire ein fantastisches, immersives, adrenalingeladenes Spektakel auf dem Tisch. Das Spiel ist aus dem Stegreif in meine persönliche Top 3 eingezogen; und seitdem dort geblieben.

Idee: Josh J. Carlson, Adam Carlson, Josh Wielgus
Illustration: Jared Blando, Anthony LeTourneau
Verlag: Chip Theory Games
Erscheinungsjahr: 2019


Personen:
1-4
Altersempfehlung: ab 12 Jahren (eigene Erfahrung ab 14 Jahren)
Spieldauer: 50 Minuten pro Person